Social Media ist immer noch Neuland!
Warum tun sich Werbetreibende immer noch so schwer mit dem interaktiven Medium? Die Möglichkeit, Zielgruppen aktiv in die Werbung einzubinden gibt es ja zumindest rein technisch seit 2008, als Facebook in Deutschland startete, was zumindest für mich gefühlt der Start von Social Media war.
Ich habe seither viel darüber gehört, dass Werbung relevant sein muss und unterhalten sollte, Content Marketing war plötzlich in aller Munde, aber der gefühlte Großteil der Bewegtbild-Werbung unterscheidet sich noch immer nicht wirklich von der Wir-unterbrechen-ihr-Programm Mechanik eines TV Spots.
Daran ändert es auch nichts, wenn dieser als YouTube PreRoll daherkommt.
Der Versuch einer Analyse.
Um zu veranschaulichen, wo das Problem zumindest teilweise liegt, möchte ich von einem erhellenden Erlebnis erzählen, das ich vor einiger Zeit in einer großen Netzwerk-Agentur hatte, für die ich als Freelance-TV-Producer ein Projekt übernommen hatte.
Ein großer internationaler Kunde schickte der Agentur ein Kampagnenbriefing mit einer Auflistung der üblichen Produktvorteile, die kommuniziert werden sollten, sowie einer Eingrenzung der Zielgruppe auf 25-35 Jahre. Im Gespräch fügten die Vertreter:innen aus dem Marketing des Werbekunden sinngemäß hinzu:
"Die jungen Leute kaufen das Konkurrenzprodukt, wir müssen uns was einfallen lassen!"
Das erfolgreiche und gestandene Kreativteam, schon damals alle über 50, kam daraufhin mit einem TV-Skript um die Ecke – obwohl es auf der Hand lag, dass dies überhaupt nicht der relevante Kanal für die Zielgruppe ist. Fairerweise sei dazu gesagt, dass die Bestimmung des Kanals ja nicht Aufgabe der Kreation ist! Was genau zu diesem Zeitpunkt die Strategieabteilung der Agentur eigentlich machte, blieb mir verborgen.
Zwar gab es zusätzlich noch mehr oder weniger halbherzige Ideen für irgendwas auf Social Media, aber da die Kreativen wenig eigene Social-Media-Erfahrung hatten und sich - wie übrigens auch ich - nur schwer in Leute hineinversetzen konnten, die halb so alt waren wie sie selbst, taten sie sich doch eher schwer mit der Ansprache der Zielgruppe.
Wir hatten ursprünglich zwei Drehtage kalkuliert, aber dann wurde klar, dass finanziell nur ein Drehtag drin war. Also starben die ohnehin lauwarmen Social-Media-Konzepte einen leisen Tod. Nach Abschluss der Dreharbeiten wurde kurzerhand der TV-Spot umgeschnitten, um als PreRoll auf YouTube eingesetzt zu werden, also als Clip, der vor den gewünschten Inhalten der Videoplattform abgespielt wird, sozusagen also Buy-In.
Großes Thema aufseiten der Marken-Vertreter:innen ist traditionell die Angst vor der Skip-Funktion: Die Zielgruppe könnte den Werbespot ja einfach überspringen! Auf Wunsch der Kund:innen startete der Spot darum mit dem Markenlogo – damit die jungen Leute zumindest das schöne Logo sehen, bevor sie denn skippen.
Dass man den Spot eventuell ja auch so gestalten könnte, dass die jungen Leute aus Interesse bis zum Logo am Ende dranbleiben: keine Option – auch weil das Material des TV-Spots dies nicht hergab. Weniger ernst kann man seine Zielgruppe eigentlich nicht nehmen.
Die Ursachen für solche Manöver?
Mangelndes Verständnis für die Kultur der Zielgruppe; Kreativteams, in denen nicht wenigstens eine Digital Native arbeitet; und nicht zuletzt Geschäftsmodelle aufseiten der Werbeschaffenden, bei denen die Produktion von Content mit vergleichsweise kleinen Social-Media-Budgets und entsprechend kleinen Margen nicht vorgesehen ist. Seit ich 1995 meine ersten Schritte in der Branche gemacht habe, sind die Prozesse, nach denen die Produktionen ablaufen, immer noch weitgehend unverändert auf TV ausgelegt. Und sie ändern sich nur schleppend. Denn auch in etablierten Agenturen sitzen oft Leute, die ihre gelernten Pfade nur ungern verlassen.
Ein Grundproblem sind aber meiner Erfahrung nach auch die fest etablierten Abstimmungs- und Freigabeprozesse innerhalb der Agenturen, zwischen den Agenturen und den Unternehmen sowie innerhalb der Unternehmen. Schon die Länge des vorangegangenen Satzes zeigt, dass man mit diesen Prozessen bei dem Tempo, das auf Social Media herrscht, nicht mithalten kann. Die Produktion eines Social-Media-Spots, der zu einem bestimmten Zeitpunkt veröffentlicht wird, kann damit jedoch grad noch funktionieren.
Was aber tatsächlich erforderlich ist, nämlich die Einbindung der Zielgruppe und entsprechende Reaktionen seitens der Marke auf ebendiese, können diese Prozesse sicher nicht abbilden.
Aber nicht nur die zeitlichen Abläufe bei den Agenturen und Unternehmen sind ein Problem. Auch der gefühlte Kontrollverlust auf Agentur- wie auf Markenseite spielt meines Erachtens eine große Rolle. Wer in einem Unternehmen an TV-Kampagnen beteiligt ist, ist meist minutiöse Planung und Abstimmung gewohnt. Es gibt Konzepte, Storyboards, Marktforschung und Shootingboards, und im Schnitt wird um jedes einzelne Frame gekämpft, um das Produkt prominent zu inszenieren.
Eine Social-Media-Kampagne dagegen, in der z.B. die Zielgruppe den Content erstellt, nimmt den Entscheider:innen die Macht, Entscheidungen zu treffen. Und sie verstärkt die ohnehin omnipräsente Angst, dass man aufgrund von Fehlentscheidungen den eigenen Job verliert. Für die Marketingverantwortlichen auf Unternehmensseite ist es schwierig, im täglichen Geschäft über den eigenen Schatten zu springen, weil die Strukturen immer noch sehr stark von den traditionellen Marketingprozessen geprägt sind.
Es gibt auch Gegenbeispiele!
Ich habe schon persönlich erlebt, dass Entscheider:innen aus dem klassischen „Above the line“-Marketing in einem großen Unternehmen, die man wohl zur Generation der Boomer zählen müsste, ihren halb so alten Mitarbeiter:innen aus dem Social-Media-Marketing signifikante Budgets zur Verfügung gestellt haben. Damit lieferten diese dann die entsprechenden Ergebnisse – ohne dass das klassische Marketing jemals verstanden hätte, wie eigentlich genau.
Pascal Fiedler, gemeinsam mit Paulina Schumann Gründer der Agentur Charles & Charlotte, hat es neulich in einem Podcast gut zusammengefasst:
"Ihr müsst eure Marke als eine Plattform verstehen, auf der Sachen passieren, und dann müsst Ihr interagieren. Loslassen ist ganz, ganz wichtig."*
Eine neue Generation von Agenturen wie JUSTADDSUGAR AGENCY, Charles & Charlotte oder PlayTheHype, deren Gründer:innen mit Social Media aufgewachsen sind und in ihrem Schaffen vermutlich wenig bis kein TV gemacht haben, ist schon lange aus dem Startblock. Content-Entwicklung für große Marken aus der Zielgruppe, mit der Zielgruppe, für die Zielgruppe - natürlich "vertical" - ist hier ebenso selbstverständlich wie neue Führungsmodelle. Einige etablierte Player ziehen bereits nach und eröffnen Gen-Z oder TikTok Units, andere reagieren vermutlich erst, wenn es fast zu spät ist - wie die deutsche Autoindustrie auf Tesla - wieder anderen ergeht es wie der Plattenindustrie nach Spotify.
Es gibt glücklicherweise bereits Initiativen des Austauschs zwischen Jung und Alt, kann man doch viel voneinander lernen und die Zukunft gestalten, denn durch den immer stärker werdenden Wunsch gerade der jüngeren Zielgruppen nach Interaktion und gemeinsamen Erlebnissen und der rasanten Entwicklung der technischen Möglichkeiten und neuen Kanäle rollt gerade eine Welle der Veränderung auf die Werbeindustrie zu...
Von Künstlicher Intelligenz haben wir da noch gar nicht gesprochen!
Teil 1/5 einer Serie über neue Zielgruppen, neue Kanäle, neue Technologien und neue Inhalte, und wie diese in Zukunft erstellt werden.
*Podcast What’s Next, Agencies? / Folge #90, 24.07.2023